Psychotherapeutische Möglichkeiten bei posttraumatischen Belastungsstörungen

Opfer von Gewaltverbrechen, Vergewaltigungen, Entführungen, Krieg und Folter, schweren Verkehrsunfällen, Naturkatastrophen oder signifikanten Verlusten (Personen, Güter, Werte) und Einbrüchen in der Lebensführung sind häufig traumatisiert. Vielen gelingt es zwar selbst, nach einer gewissen Verarbeitungszeit wieder ihr seelisches Gleichgewicht zu finden, in manchen Fällen entwickeln Opfer oder Zeugen eines solchen Ereignisses jedoch neben einer akuten Belastungsreaktion eine Anpassungsstörung oder “Posttraumatische Belastungsstörung”. Man geht heute davon aus, dass jeder dritte bis vierte Betroffene eines lebens- oder identitätsbedrohenden Erlebnisses das Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt. Bei länger andauernder Traumatisierung ist die Quote allerdings deutlich höher.
 
Neben Ängsten und depressiven Symptomen finden sich
  • das häufige, von stark negativen Gefühlen begleitete Wiedererleben der traumatischen Erfahrung in Form von spontan sich aufdrängenden Gedanken oder Bildern (sog. 'Flashbacks' oder Intrusionen),
  • die Vermeidung von Situationen (z.B. Intimität) und Gesprächsthemen, die irgendwie an das Trauma erinnern,
  • eine erhöhte körperliche Erregbarkeit, die zu verstärkten Schreckreaktionen und Schlafstörungen sowie Alpträumen führen kann, sowie auf der anderen Seite
  • oft eine emotionale Abstumpfung, Verlust bisher vorhandener Interessen, häufig begleitet von Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenkonsum.
Das physiologische/körperliche Kennzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung ist der durch die Verhinderung einer natürlichen Abwehr- oder Fluchtreaktion gleichsam 'eingefrorene' Affekt. Sind beide Alternativen nicht möglich, reagiert der Organismus ähnlich wie im Tierreich mit körperlicher Starre. Dadurch wird auch die Erinnerung durch die Erschütterung im Hippocampus isoliert verankert, und im folgenden zur Verarbeitung vom Bewusstsein periodisch oder ausgelöst durch assoziative Trigger immer wieder reaktiviert und dadurch verstärkt. Durch die emotionale (meist Angst-) Komponente wird jedoch die Erinnerung gleichzeitig bedrohlich erlebt und wieder abgewehrt. In diesem Kreislauf scheint der Organismus gefangen, die fehlende Bewältigungsmöglichkeit verstärkt die Versagenserfahrung weiter, nur eine Abstumpfung scheint allmählich Linderung zu schaffen.
 
Zur Behandlung dieser posttraumatischen Belastungsstörungen hat sich in den letzten Jahren auch in Deutschland ein Verfahren als überaus wirksam erwiesen, das bilaterale Stimulationen (im allgemeinen seitliche Augen(pendel)bewegungen oder Klopfen auf die Hände) mit direkter imaginativer Arbeit an den belastenden Ereignissen verbindet. Das Ergebnis ist oft schon in wenigen Sitzungen ein deutliches Abklingen der mit den traumatischen Erinnerungen verbundenen Ängste und Gefühle. Durch mittlerweile umfangreiche wissenschaftliche Studien abgesichert, zeigt sich auch die Dauerhaftigkeit dieser Behandlungserfolge.
 
Das Verfahren, genannt EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, deutsch Augenbewegungs-Desensibilisierung und Wiederverarbeitung) wurde vor bald 20 Jahren von der Amerikanerin Francine Shapiro entwickelt. Als klinische Psychiaterin konnte sie die Effektivität des im folgendem weiter verfeinerten Verfahrens an einer Population von jahrzehntelang unter Traumafolgestörungen leidenden Vietnam-Veteranen erproben und dokumentieren. Mittlerweile 18 Jahre Erfahrung und Forschung in den Vereinigten Staaten und seit ca. 10 Jahren auch in Deutschland und weiteren Ländern beweisen die Effizienz dieses Verfahrens.
 
Klienten berichten oft folgende Phänomene bei und nach der Behandlung mit EMDR:
  • Die belastenden Emotionen klingen meist schnell ab. Oft verändern sie sich auch qualitativ: es kann beispielsweise sein, dass nach Angst Gefühle von Wut und/oder Trauer auftauchen, Auseinandersetzungen durchgeführt werden, bevor sich ein Gefühl der Erleichterung einstellt.
  • Das Erinnerungsbild kann sich spontan verändern. Erlebt man sich zunächst noch als unmittelbar Betroffene(r) der Szene, betrachtet man das Erlebnis beispielsweise später distanzierter oder von aussen. Belastende Erinnerungen können auch blasser werden oder wegdriften.
  • Ähnliche unverarbeitete Vorbelastungen (bis in die Kindheit) steigen gelegentlich ins Bewusstsein und werden in den meisten Fällen entsprechend mit verarbeitet.
  • Häufig tauchen auch weitere wichtige Einsichten oder hilfreiche Gedanken auf. Verwandte, positiv erlebte Ereignisse werden zum Beispiel erinnert oder andere positive Aspekte der jeweiligen Situation.
Der genaue Wirkungsmechanismus des Verfahrens konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden; allerdings besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Ähnlichkeit der eingesetzten Augenbewegungen mit den während der Traumschlafphasen (REM-Schlaf) auftretenden Augenbewegungen Basis des Wirkmechanismus ist. Nach Meinung des Autors wird das Gehirn dabei in einen anderen Operations- und Verarbeitungsmodus versetzt. Ähnlich wie auch Träume der Verarbeitung, Einordnung und Relativierung gemachter Erfahrungen dienen, jedoch durch die hohe emotionale Intensität traumatisierender Erfahrungen hierbei gestört werden, lässt sich selbige Funktion in der vom Wachbewusstsein kontrollierten, in einem sicheren Raum stattfindenden therapeutischen Interaktion abgestuft nutzen. Die Begleitung eines vertrauenswürdigen Therapeuten sowie dessen Sicherheit über die Bewältigbarkeit des vorgefallenen Ereignisses (es ist Vergangenheit, die allerdings noch unverarbeitet schmerzvoll und Abwehrreaktionen produzierend im Körpergedächtnis steckt) sind weitere wesentliche Bedingungen effizienter Arbeit.
 
Betont werden muss allerdings, dass auch EMDR nicht gegenwärtig begründete Realängste beseitigen kann, allerdings sehr wohl einen deutlichen Beitrag zur Erweiterung des persönlichen Kompetenzspektrums leisten kann. Insgesamt kann EMDR jedoch zu den erwiesenermaßen effektivsten und gleichzeitig sanftesten therapeutischen Methoden gerechnet werden.
 
Am 6. Juli 2006 wurde EMDR vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie der Bundespsychotherapeutenkammer als Methode zur Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung wissenschaftlich anerkannt. Seit 2015 durch Beschluss des Gemeinsamen Bundes-Ausschusses (GBA) der Ärzte und Psychotherapeuten Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen.
 
 

© 2012 - Mark Novy   drucken drucken